Elvis in Jerusalem
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19 Mai 2003 12:25 #104673
von Charles
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Elvis sei dank!
Israels Gesellschaft wird immer amerikanischer. Gut so, findet der Publizist Tom Segev. Denn das bedeutet auch mehr Toleranz und Pragmatismus
Von Igal Avidan
Eines Tages, Anfang der 60er Jahre, stürmte Tom Segevs Literaturlehrer ins Klassenzimmer. Abraham Jehoshua, heute ein renommierter Schriftsteller, war regelrecht aufgewühlt. Er hatte eine Diskussion von Teenagern aus Jerusalem verfolgt und mitbekommen, dass die Jugendlichen sich nicht etwa über zionistische Werte unterhielten, sondern über den Preis deutscher VW-Käfer. Nicht zufällig beginnt Segev mit dieser Anekdote sein neues Buch „Elvis in Jerusalem“. In dieser Analyse der modernen israelischen Gesellschaft will der bekannte Historiker und Kolumnist der linksliberalen Zeitung Haaretz zeigen, dass die zwanghafte Normalisierung Israels, die zugleich ein Ende der zionistischen Staatsdoktrin herbeiführen müsse, kein neues Phänomen ist. Es begann schon in der Zeit, als viele Israelis Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland erhielten.
Heute leben nur noch wenige Israelis für den Zionismus, die Ideologie der Gründungsväter, oder ihr Land. Sie leben für sich selbst. Und die heutigen Einwanderer wollen nicht mehr die vermeintliche Mentalität der Diaspora-Juden überwinden und im „Schmelztiegel“ Israel ein neuer Hebräer nach biblischem Muster werden: ein verwurzelter Bauer, der sich der Landschaft hingibt; ein tapferer Kämpfer gegen die feindlichen Araber; ein Patriot, der Hebräisch spricht und für den Wohlstand und Judentum ein Fremdwort ist.
Segev beschreibt ein post-zionistisches Israel, nennt es aber nicht beim Namen. Nicht von ungefähr. Der Autor meidet den inzwischen zum Schimpfwort verkommenen Begriff „Post-Zionisten“. Das Buch erschien in Israel Ende 2001, kurz nach dem Ausbruch der neuen Intifada unter dem weniger rebellischen Titel „Die neuen Zionisten“. Der seit zweieinhalb Jahren andauernde palästinensische Terror habe Israel zurück „in den Schoß des Zionismus gebombt“, weil die Israelis meinten, sie kämpften um ihre Existenz. Genau wie 1948. Kein Wunder, dass der prominenteste Vertreter dieser Ansicht heute Regierungschef Ariel Scharon ist.
Vier Skulpturen dienen Segev als Wegweiser in seinem Streifzug durch die komplexen israelischen Alltagsdebatten. Die Plastik Theodor Herzls, des Vaters des Zionismus, benutzt er, um zu zeigen, dass heute der Wiener Intellektuelle und Vater des modernen Zionismus als Postzionist gelten würde. Denn weder Jerusalem noch die hebräische Sprache waren wichtig für Herzl, nicht einmal das Land Israel. Er bevorzugte Argentinien oder Uganda als Heimat für die Juden aus aller Welt.
Eine riesige goldene Elvis-Presley-Figur vor einem Schnellrestaurant an der Autobahn nach Jerusalem ist für den Historiker ein Sinnbild der Amerikanisierung seines Landes, die er bejubelt. Denn erst die USA hätten die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien ermöglicht. Besonders beeindruckt Segev der amerikanische Einfluss auf das Oberste Gericht in Israel. Als Beispiel führt er ein Urteil an, das den Verkauf staatlichen Bodens an israelische Araber erlaubt hat. Allerdings vergisst er darauf hinzuweisen, dass das Gericht versäumte, die Aufnahme der arabischen Familie zu erzwingen. Stattdessen empfahlen die Richter der Genossenschaft des jüdischen Dorfes, das Mitgliedschaftsersuchen der arabischen Familie wieder zu überprüfen. Das tat diese auch und lehnte die Familie erneut ab, diesmal mit der Begründung, sie passe eben nicht ins „soziale Milieu".
Am Beispiel der Skulptur des orthodoxen Rabbiners Ovadia Josef setzt sich Segev (etwas oberflächlich) mit der zunehmenden Religiosität in Israel auseinander. Die orthodox-orientalische Schas-Partei hat seit ihrer Gründung 1984 bei jeder Wahl Stimmen hinzugewonnen und wurde bei den Parlamentswahlen 1999 drittstärkste Kraft. Sie mobilisierte ärmere und schlecht gebildete orientalische Juden gegen die „Eliten“, vor allem gegen das Oberste Gericht, das angeblich jüdische Werte zugunsten westlicher Ideen ignoriere. Warum Segev die orthodoxe Partei nicht als eine Bedrohung für den Rechtsstaat ansieht, sondern sie für eine authentische und legitime Bewegung im post-zionistischen Israel hält, wird nicht klar. Eine Partei kann authentisch und gefährlich sein.
Die Bronzeskulptur des Soldaten Gadi Menle schließlich dient Segev als Hinweis darauf, dass selbst seine patriotischen Landsleute den Traum von Groß- Israel langsam begraben. Und wohin entwickelt sich Israel? Segev glaubt, dass nach dem Irak-Krieg sich die Amerikanisierung der Gesellschaft weiter fortsetzen könnte. Auch aus politischen Gründen. Dann nämlich, wenn Washington es schaffte, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu beenden. Eine solche „Intervention“ im Nahostkonflikt könnte nach Segevs Einschätzung sogar erfolgreich sein. Aber so richtig daran glauben mag der Publizist auch wieder nicht. Die Vorstellung sei zu schön, um wahr zu werden. Elvis steckt im Stau, auf dem Weg nach Jerusalem.
<span style='font-size:8pt;line-height:100%'>Quelle: Tagesspiegel.De</span>
„Zeit, die man zu verschwenden genießt, ist nicht verschwendet.“ — John Lennon
Elvis in Jerusalem wurde erstellt von Charles
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Elvis sei dank!
Israels Gesellschaft wird immer amerikanischer. Gut so, findet der Publizist Tom Segev. Denn das bedeutet auch mehr Toleranz und Pragmatismus
Von Igal Avidan
Eines Tages, Anfang der 60er Jahre, stürmte Tom Segevs Literaturlehrer ins Klassenzimmer. Abraham Jehoshua, heute ein renommierter Schriftsteller, war regelrecht aufgewühlt. Er hatte eine Diskussion von Teenagern aus Jerusalem verfolgt und mitbekommen, dass die Jugendlichen sich nicht etwa über zionistische Werte unterhielten, sondern über den Preis deutscher VW-Käfer. Nicht zufällig beginnt Segev mit dieser Anekdote sein neues Buch „Elvis in Jerusalem“. In dieser Analyse der modernen israelischen Gesellschaft will der bekannte Historiker und Kolumnist der linksliberalen Zeitung Haaretz zeigen, dass die zwanghafte Normalisierung Israels, die zugleich ein Ende der zionistischen Staatsdoktrin herbeiführen müsse, kein neues Phänomen ist. Es begann schon in der Zeit, als viele Israelis Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland erhielten.
Heute leben nur noch wenige Israelis für den Zionismus, die Ideologie der Gründungsväter, oder ihr Land. Sie leben für sich selbst. Und die heutigen Einwanderer wollen nicht mehr die vermeintliche Mentalität der Diaspora-Juden überwinden und im „Schmelztiegel“ Israel ein neuer Hebräer nach biblischem Muster werden: ein verwurzelter Bauer, der sich der Landschaft hingibt; ein tapferer Kämpfer gegen die feindlichen Araber; ein Patriot, der Hebräisch spricht und für den Wohlstand und Judentum ein Fremdwort ist.
Segev beschreibt ein post-zionistisches Israel, nennt es aber nicht beim Namen. Nicht von ungefähr. Der Autor meidet den inzwischen zum Schimpfwort verkommenen Begriff „Post-Zionisten“. Das Buch erschien in Israel Ende 2001, kurz nach dem Ausbruch der neuen Intifada unter dem weniger rebellischen Titel „Die neuen Zionisten“. Der seit zweieinhalb Jahren andauernde palästinensische Terror habe Israel zurück „in den Schoß des Zionismus gebombt“, weil die Israelis meinten, sie kämpften um ihre Existenz. Genau wie 1948. Kein Wunder, dass der prominenteste Vertreter dieser Ansicht heute Regierungschef Ariel Scharon ist.
Vier Skulpturen dienen Segev als Wegweiser in seinem Streifzug durch die komplexen israelischen Alltagsdebatten. Die Plastik Theodor Herzls, des Vaters des Zionismus, benutzt er, um zu zeigen, dass heute der Wiener Intellektuelle und Vater des modernen Zionismus als Postzionist gelten würde. Denn weder Jerusalem noch die hebräische Sprache waren wichtig für Herzl, nicht einmal das Land Israel. Er bevorzugte Argentinien oder Uganda als Heimat für die Juden aus aller Welt.
Eine riesige goldene Elvis-Presley-Figur vor einem Schnellrestaurant an der Autobahn nach Jerusalem ist für den Historiker ein Sinnbild der Amerikanisierung seines Landes, die er bejubelt. Denn erst die USA hätten die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien ermöglicht. Besonders beeindruckt Segev der amerikanische Einfluss auf das Oberste Gericht in Israel. Als Beispiel führt er ein Urteil an, das den Verkauf staatlichen Bodens an israelische Araber erlaubt hat. Allerdings vergisst er darauf hinzuweisen, dass das Gericht versäumte, die Aufnahme der arabischen Familie zu erzwingen. Stattdessen empfahlen die Richter der Genossenschaft des jüdischen Dorfes, das Mitgliedschaftsersuchen der arabischen Familie wieder zu überprüfen. Das tat diese auch und lehnte die Familie erneut ab, diesmal mit der Begründung, sie passe eben nicht ins „soziale Milieu".
Am Beispiel der Skulptur des orthodoxen Rabbiners Ovadia Josef setzt sich Segev (etwas oberflächlich) mit der zunehmenden Religiosität in Israel auseinander. Die orthodox-orientalische Schas-Partei hat seit ihrer Gründung 1984 bei jeder Wahl Stimmen hinzugewonnen und wurde bei den Parlamentswahlen 1999 drittstärkste Kraft. Sie mobilisierte ärmere und schlecht gebildete orientalische Juden gegen die „Eliten“, vor allem gegen das Oberste Gericht, das angeblich jüdische Werte zugunsten westlicher Ideen ignoriere. Warum Segev die orthodoxe Partei nicht als eine Bedrohung für den Rechtsstaat ansieht, sondern sie für eine authentische und legitime Bewegung im post-zionistischen Israel hält, wird nicht klar. Eine Partei kann authentisch und gefährlich sein.
Die Bronzeskulptur des Soldaten Gadi Menle schließlich dient Segev als Hinweis darauf, dass selbst seine patriotischen Landsleute den Traum von Groß- Israel langsam begraben. Und wohin entwickelt sich Israel? Segev glaubt, dass nach dem Irak-Krieg sich die Amerikanisierung der Gesellschaft weiter fortsetzen könnte. Auch aus politischen Gründen. Dann nämlich, wenn Washington es schaffte, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu beenden. Eine solche „Intervention“ im Nahostkonflikt könnte nach Segevs Einschätzung sogar erfolgreich sein. Aber so richtig daran glauben mag der Publizist auch wieder nicht. Die Vorstellung sei zu schön, um wahr zu werden. Elvis steckt im Stau, auf dem Weg nach Jerusalem.
<span style='font-size:8pt;line-height:100%'>Quelle: Tagesspiegel.De</span>
„Zeit, die man zu verschwenden genießt, ist nicht verschwendet.“ — John Lennon
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